Die Nationalhymne und ähnlich erbauende Lieder

Januar 28, 2007

Heute in einer Woche findet das wichtigste Sportereignis der Welt statt, der Superbowl, das Endspiel im American Football. Die Schönste Germanin hat für diesen Autor und einen Arbeitskollegen Karten zu einer der größeren Partys in Berlin organisiert, während sie selbst wegen Kind Nummer Zwei dieses Mal nicht mitkommen kann (so eine Frau muss man doch einfach heiraten). Und der Ungenannte Arbeitgeber ist darüber informiert worden, dass am Montag zwei Mitarbeiter nicht voll einsatzfähig sein werden. Darüber sollte es keine Klagen geben: Wir hatten schließlich auch Verständnis für dieses lokale Sportfest, das im Sommer 2006 wochenlang die Republik lähmte.

Bei solchen Partys gibt es ein gemischt deutsch-amerikanisches Publikum, was an sich schon unterhaltsam ist. Da nicht alle Deutschen Englisch und nicht alle Amerikaner Deutsch sprechen, muss man mit jedem Gegenüber zunächst aushandeln, welche Sprache am besten ist. Auch die verschiedenen Tischmanieren sind immer wieder ein großer Spaß.

Und dann kommt der Moment, am dem sich die Nationalitäten kurz wieder aufteilen: Vor dem Superbowl wird wie vor jedem größeren amerikanischen Sportereignis die Nationalhymne gespielt. Die Amerikaner stehen auf, legen die Hand auf’s Herz und tun zumindest so, als würden sie den Text kennen, während die Deutschen sich fragen, ob es als unhöflich gilt, in so einer Situation weiter Chicken Wings zu essen. Besonders lustig sind die Gesichter der Einheimischen, die nicht vorgewarnt wurden und so etwas nur aus Filmen kennen – mein Gott, die machen das ja wirklich!

Die Sache mit der Nationalhymne – seit 1931 The Star-Spangled Banner – ist wie der Umgang mit der Fahne oder der Pledge of Allegiance (Fahneneid) für Deutsche erfahrungsgemäß schwierig. Vieles von dem, was wir bei dem Eintrag über die Fahne gesagt haben, gilt auch hier. Wir wollen den restlichen staatstragenden Hintergrund beim Eintrag über den Fahneneid erledigen und uns hier auf die Hymne selbst konzentrieren:

O say, can you see, by the dawn’s early light,
What so proudly we hailed at the twilight’s last gleaming?
Whose broad stripes and bright stars, through the perilous fight,
O’er the ramparts we watched, were so gallantly streaming?
And the rocket’s red glare, the bombs bursting in air,
Gave proof through the night that our flag was still there.
O say does that star spangled banner yet wave
O’er the land of the free, and the home of the brave?

(Es gibt deutsche Übersetzungen. Wir halten allerdings fest, dass brave eigentlich „tapfer“ und nicht „brav“ heißt, die USA also nun wirklich nicht das „Land der Freien und Braven“ sind. Übersetzen war wohl auch schon früher die Hölle.)

Zwei Dinge fallen zunächst auf: Erstes, es geht um die Fahne und nicht um die USA selbst, weswegen wir auf den Fahneneintrag verweisen können. Zweitens, die ganze Sache ist ziemlich martialisch.

Dabei geht diese Strophe der National Anthem sogar noch. Eigentlich gibt es vier (man weiß schließlich nie, wann man zusätzliche Strophen braucht, nicht wahr) und in der dritten wird beschrieben, wie das Blut die fauligen Fußabdrücke der Bösewichte vom schönen amerikanischen Boden weggewaschen hat und dass nicht einmal ihre panische Flucht sie vor ihren düsteren Gräbern schützen konnte. Als Computerspiel wäre die amerikanische Nationalhymne in Deutschland indiziert.

Die Bösewichte sind mal wieder die Briten. Der Text der Hymne wurde von Francis Scott Key 1814 geschrieben, als die britische Flotte im Krieg von 1812 die Festung Fort McHenry bei Baltimore bombardierte. Während des Kriegs benahmen sich die Briten ziemlich ungehörig und zündeten Teile von Washington an (auch das Weiße Haus). Angeblich verzichteten die USA während des Zweiten Weltkriegs auf die dritte Strophe, um die Gefühle des lieben Verbündeten nicht zu verletzen.

Die britische Nationalhymne, God Save the Queen, gleichzeitig die „Royal Hymn“ von Staaten wie Australien, ist allerdings auch nicht gerade pazifistisch, nur weniger konkret. Die (inzwischen oft unterschlagene) zweite Strophe lautet:

O Lord, our God, arise,
Scatter her enemies,
And make them fall.
Confound their politics,
Frustrate their knavish tricks,
On Thee our hopes we fix,
God save us all.

(Knavish tricks ist wunderbar altmodisches Englisch, das man heute sonst nur noch bei Kinderversionen von Robin Hood findet) Streit kann es trotzdem geben, weil die Melodie von „God Save the Queen“ nicht nur für das preußische „Heil Dir im Siegerkranz“ benutzt wurde, sondern in den USA ab 1831 für „My Country Tis of Thee“ von Samuel Francis Smith:

My country, ‚tis of thee,
Sweet land of liberty,
Of thee I sing;
Land where my fathers died,
Land of the pilgrims‘ pride,
From every mountainside
Let freedom ring!

Das Lied kann als frühe faktische Nationalhymne der USA gesehen werden. Die Zeile let freedom ring baute Martin Luther King in seine Rede „I have a Dream“ ein.

Es gilt natürlich als unhöflich, diesen Text während der britischen Nationalhymne zu singen. Daher ist es vielleicht ganz gut, dass die Briten beim Football völlige Nieten sind und nicht einmal ihre NFL Europe Mannschaft halten konnten (fünf der sechs Mannschaften haben ihren Sitz in Deutschland).

Die Briten werden allerdings nicht müde darauf hinzuweisen, dass die Melodie der jetzigen amerikanischen Nationalhymne eigentlich die ihres Trinkliedes „To Anacreon in Heaven“ (mit richtigem Namen „The Anacreontic Song“) ist.

Das, äh, muss man natürlich viel differenzierter sehen. Die Anacreontic Society, eine Gruppe von Musikliebhabern in London, spielte das Lied im 18. Jahrhundert tatsächlich bei ihren Treffen nach dem Hauptgelage. Man kann das aber auch so interpretieren, dass es ein Test darstellte, wie nüchtern man noch war. Denn die Melodie ist berüchtigt für ihren Schweregrad, und amerikanische Musiker sagen ständig unpatriotische Dinge über sie. Jimi Hendrix nutzte nicht umsonst 1969 während Woodstock seine künstlerische Freiheit bis zum Äußersten aus.

Wegen des kriegerischen Hintergrundes und der schwierigen Melodie gibt es immer wieder Vorschläge, die Hymne zu wechseln. Einer der wichtigsten Konkurrenten ist „America the Beautiful“, geschrieben von Katharine Lee Bates in 1893:

Oh beautiful, for spacious skies,
For amber waves of grain,
For purple mountain majesties
Above the fruited plain!
America! America! God shed his grace on thee,
And crown thy good with brotherhood, from sea to shining sea.

Es wird besonders dann gesungen, wenn der Ton der Nationalhymne unpassend wäre. Das war zum Beispiel nach den Terror-Anschlägen des 11. Septembers 2001 der Fall, als das Lied selbst gestandene Fernsehmoderatoren zu Tränen rührte, zu ihrem eigenen Entsetzen. Viel zu hören war in den Tagen auch „God Bless America“, geschrieben 1918 von dem russischen Einwanderer Irving Berlin [JPG]:

God Bless America,
Land that I love.
Stand beside her, and guide her
Thru the night with a light from above.
From the mountains, to the prairies,
To the oceans, white with foam
God bless America, My home sweet home.

Direkt nach den Anschlägen versammelte sich der Kongress auf den Stufen des Kapitols um es zu singen. Wie „America the Beautiful“ hat „God Bless America“ zwar keinen Bezug zum Krieg. Aber beide Lieder haben einen fatalen Fehler: Es sind eigentlich Gebete und haben damit einen Gottesbezug, den Amerikaner bei staatlichen Symbolen gar nicht gerne sehen.

Der Folk-Sänger Woody Guthrie hatte 1940 noch andere Dingen an „God Bless America“ auszusetzen, das er damals ständig im Radio vorgedudelt bekam. Nicht nur, dass es vor Pathos trieft, es ging für ihn auch zu sehr an den Menschen vorbei. Daher schrieb er das bodenständigere „This Land is Your Land“:

This land is your land, this land is my land
From California, to the New York Island
From the redwood forest, to the gulf stream waters
This land was made for you and me

Auch das Lied ist als Alternative zur jetzigen Nationalhymne vorgeschlagen worden, aber ebenfalls vergeblich, vermutlich weil es nicht staatstragend genug ist. Am Ende wird es wohl bei The Star-Spangled Banner bleiben, kriegerische Bilder und schwierige Melodie hin oder her.

In gewisser Weise gehört es auch zum Spaß dazu zu sehen, wie gut sich die Musiker vor dem Superbowl schlagen. Die beste Version soll Whitney Houston beim Superbowl XXV während des Ersten Irak-Kriegs 1991 geliefert haben – Kunststück, es war Playback, was einige Leute ihr immer noch übel nehmen. Die meisten anderen Sänger haben der Melodie ohne technische Hilfe tapfer ins Auge gesehen, waren also doch irgendwie brav.

In diesem Jahr soll Billy Joel die Hymne singen. Das ist seltsam, weil er schon 1989 das Vergnügen hatte und damit bislang als Einziger zwei Mal singen darf. Dieser Autor kann nur hoffen, dass Barry Manilow nicht auch irgendwann gebeten wird, noch einmal aufzutreten: Das könnte die Akzeptanz von Football in Europa um Jahrzehnte zurückwerfen.

Die Nationalhymne wird übrigens nicht nur vor Football-Spielen gesungen. Beim Baseball ist sie so sehr Teil des Ablaufs, dass amerikanische Kinder angeblich in dem Glauben aufwachsen, die letzten beiden Wörter seien Play ball!

Womit wir wieder beim Thema wären. Dieser Autor hat sich nach längerem Seelenpein dazu entschlossen, für die Indianapolis Colts zu sein. Ob sie eine Chance haben, ist eine andere Sache. Nicht umsonst nennt man Chicago the city of the big shoulders.

(Korrigiert 31. Jan 2007: Mit traumwandlerischer Sicherheit falsche Version von „God Bless America“ einkopiert, zuerst gesehen von DKS, vielen Dank; zusätzlicher Link eingebaut. Variante von „This Land“ war eine ältere, auch durch Mainstream-Version ersetzt.)

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