Warum Amerikaner (Briten, Kanadier) nicht sagen, was sie meinen

September 18, 2006

Hey, how are you? fragt der Amerikaner und ist dann überrascht, wenn der Deutsche erzählt, sein Frettchen sei gerade überfahren worden. Just come on over sometime! sagt der Brite und ist entsetzt, wenn der Deutsche irgendwann wirklich vor der Tür steht. Angelsachsen meinen nicht immer, was sie sagen, Deutsche dagegen meist schon. Kommen die beiden Kulturen zusammen, gibt es ganz andere Probleme als nur den Händedruck.

Denn Amerikaner, Briten, Kanadier und die anderen aus diesem Kulturkreis sprechen in gewissen Situationen verschlüsselt. Das gebietet die Höflichkeit. Es gilt zum Beispiel als krude, direkt no zu sagen und daher wird etwas anderes gesagt, das jeder andere Angelsachse als ein „Nein“ versteht, aber nicht „Nein“ heißt [Liebe Frauen: Einige Probleme mit dem Wort „Nein“ sind allerdings wohl eher geschlechts- als kulturbedingt. Tut mir leid].

Auf die Frage an die beste Freundin, wie einem ein Kleid steht, wird eine Deutsche vielleicht das Gesicht verziehen und „Du, nicht wirklich“ sagen oder „Ich weiß nicht, ob es dir so gut steht“, eine Amerikanerin aber eher etwas wie „Würde blau nicht besser zu deinen Augen passen?“. Für eine Amerikanerin heißt das, du siehst aus wie eine magersüchtige Vogelscheuche mit einem Heroin-Problem, während eine Deutsche das Gefühl hat, man redet aneinander vorbei. Augen? Was faselt die von meinen Augen? Ich will wissen, ob mein Arsch fett aussieht!

Andere Beispiele: Bei einer Diskussion mit Amerikanern heißt I wonder if this is really the best solution übersetzt „nein“. I’m wondering if we might need more time heißt „nein“ und We might want to review some parts of the project heißt „nein“. Amerikaner sind verwirrt (oder schlicht sauer), wenn Deutsche nach solchen Sätzen kurz überlegen und sagen, nee, so ist’s gut, und dann einfach weitermachen. Aus der Sicht des Amerikaners war die Aussage klar und deutlich.

Die Regel gilt auch für den Alltag. Ein höflicher Kanadier wird nicht sagen, dass ihm ein Geschenk nicht gefällt, denn das würde sich nicht gehören und könnte die Gefühle des anderen verletzten. Und das ist – um zum zentralen Punkt der Geschichte zu kommen – im Zweifelsfall wichtiger als die reine Wahrheit. Deswegen sagt man es – wenn überhaupt – verschlüsselt, und weil der andere den Code kennt, versteht er es und alles bleibt höflich. Nicht umsonst gibt es im Englischen die Begriffe little white lie und polite lie, die beide wesentlich schwächer sind als eine „Notlüge“: Es handelt sich um eine gesellschaftlich akzeptierte, mehr noch, eine gesellschaftlich vorgeschriebene Flunkerei.

Das wirft die Frage auf, wie Briten & Co. reagieren, wenn ihnen wirklich ein Geschenk gefällt. Kurz gesagt, sie flippen völlig aus. Das wollte ich schon immer haben, Liebling, schau her, was sie mir gebracht haben, schon als Kind, nein, bereits vor der Geburt wollte ich genau das haben, warte, bis es die Nachbarn sehen, vielen, vielen, vielen dank, diesen Tag werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen und meine Enkelkinder werden noch davon sprechen, ich lasse es mir auf meinen Grabstein meißeln. Wenn einem als Deutscher die ganze Situation peinlich wird und man sich langsam fragt, ob man verarscht wird, ist es genau richtig.

So anstrengend glückliche Angelsachsen für Deutsche sein können: Umgekehrt ist das Problem ernster. Ein Amerikaner, der einem Deutschen ein Geschenk macht, ist eigentlich immer enttäuscht, denn Deutsche flippen bei so etwas nie aus. In dem Codebuch eines Angelsachsen ist das normale deutsche Dankeschön aber ein Zeichen dafür, dass man das Geschenk nicht mag. Dieser Autor hat über die Jahre schon einige betrübte Landsleute trösten müssen, die mit der Klage She didn’t like my present! What did I do wrong? I don’t understand! völlig geknickt von einem Date zurückgekommen sind. Nein, sie hat es geliebt, aber sie ist eine Deutsche. Die sind halt so. Heirate sie trotzdem.

Jetzt kommt der Teil, der einigen interessierten Lesern nicht unbedingt gefallen dürfte: Die gerade beschriebenen Prinzipien gelten ganz besonders für das Verhalten von Angelsachsen im Ausland, also in unserem speziellen Fall für das von Amerikanern in Deutschland. If you don’t have anything nice to say, don’t say anything, schärft man den Kiddies ein und so halten sie im Urlaub oder beim Austauschprogramm den Mund: Kritik am Gastgeber ist so ziemlich der Gipfel der Unhöflichkeit.

Und deswegen ist es so gut wie unmöglich aus Amerikanern oder Briten oder wem auch immer herauszubekommen, wie es ihnen in Deutschland wirklich gefällt. Wenn sie gut erzogen sind, werden sie immer sagen, dass es toll ist. Einfach super. Total spitze. Alles andere wäre ein Zeichen einer katastrophalen Kinderstube, nur knapp weniger schlimm als das Schnäuzen mit dem Tischtuch oder die ausgedehnte Ohrreinigung mit dem Eßstäbchen.

Für Deutsche ist das frustrierend. Wenn jemand einige Zeit in einem Land verbracht hat, gehen sie davon aus, dass es Dinge gibt, die einem nicht gefallen haben – natürlich. Es gilt als „ehrlich“, diese anzusprechen und eine „differenzierte“ Meinung als ein Zeichen eines kultivierten, kritischen Geistes. Wer alles toll, super und spitze findet, gilt als dumm, leichtgläubig, oberflächlich – letzteres ist nicht umsonst eines der häufigsten deutschen Vorurteile über Amerikaner. Aus US-Sicht ist das in gewisser Weise ein Kompliment.

Zwar ist das Prinzip solcher kulturellen Codes den meisten Deutschen von Ländern wie Japan bekannt, wo offenbar „nein“ nur deswegen im Wörterbuch steht, weil die Sprachpolizei es verlangt. Bei den Briten oder Amerikanern erwarten sie es aber komischerweise nicht. Es wird auch nicht im Englischunterricht vermittelt, was diesem Autor ein völliges Rätsel ist: Es bleibt dem Leser als Übung überlassen sich vorzustellen, wie das normale Verhalten von deutschen Austauschschülern in London, New York oder Ottawa wirkt. How did you like your stay? heißt es dann am Ende, und jedes Jahr laufen dann tausende nichts ahnende deutsche Kinder ins kulturelle Messer.

Wird Deutschen mit viel Kontakt zu Angelsachsen zum ersten Mal klar, dass es einen Code gibt, bricht schon mal Panik aus. Jeder Satz, jede Äußerung wird hinterfragt: Meint er das oder sagt er es nur, weil er höflich ist? Und wie verhalte ich mich denn? Ich will auch das Codebuch!

Man muss zuerst damit leben lernen, dass man einige Dinge nicht erfahren wird. Ein guter Gast wird bei einem immer das Gefühl geben, dass man sein Leben verändert hat. Wer es sich nicht darauf beruhen lassen kann oder will, muss mitdenken, sich in den anderen hineinversetzen und sich auf seine Empathie verlassen. Wer selbst Gast ist, spart sich bitte seine Kritik für sein Tagebuch auf und konzentriert sich auf einen möglichst konkreten Punkt, der dann ehrlich gelobt wird, oder zumindest so ehrlich wie möglich. It was different heißt übrigens übersetzt „es war schrecklich“. So einfach kommt man nicht davon.

Eine weitere Faustregel ist das oben beschriebene Prinzip, dass viele Dinge auf Deutsche übersteigert wirken (Vorsicht aber bei Amerikanern, die lange genug in Deutschland leben und wissen, welche Reaktion angebracht ist). Hilfreich ist auch die „Dreierregel“: Wenn ein Angelsachse drei Mal etwas sagt (Please come visit us again!) und man schon leicht genervt ist, dann gilt es mit ziemlicher Sicherheit. Einmal ist dagegen kein Mal.

Am Ende sollte man sich aber auch vor Augen halten: In keinem Land erwartet man von einem Ausländer ein völlig „korrektes“ Sozialverhalten. Die meisten Amerikaner wissen, dass Deutsche, sagen wir mal, direkter sind. Einen gewissen Spielraum hat man also schon, so lange man nichts dagegen hat, Stereotypen zu bedienen.

Wer die Regeln kennt, oder wenigstens von ihnen weiß, kann sie dann auch gezielt brechen. Die Schönste Germanin benutzt hin und wieder die Einleitung I’m German, so I’m sorry if this seems like a direct question, die jedem Angelsachsen in Hörweite und insbesondere diesem Autor das Blut gefrieren lässt. Ist der Ruf erst ruiniert …